Ein Schlump, ne halbe Sache und was mega Unnötiges
Schlump, m.
"... Zufall, ungefähr, unvermuteter glücksfall ... was ohn vorgedanken, ohn kunst, unversehens geschiehet..."
Auf unserer Reise gibt es immer wieder Situationen, in denen es nicht so läuft, wie gedacht.
Mit spontanen Planänderungen geht jeder Mensch bekanntermaßen anders um. Um es auf Holly Golightly noch ein bisschen herausfordernder zu machen, empfinden Mareike und Franz spontane Änderungen manchmal diametral entgegengesetzt. Franz ist in der Regel tiefenentspannt, lässt sich von Störungen nicht so schnell aus der Ruhe bringen und hat meistens kein Problem, wenn etwas mal anders läuft. Mareike hingegen hat es gern genau und vor allem im Vorfeld gut durchdacht, liebt konkrete Pläne und braucht dafür besonders eins: Zeit. Die wetterbedingte Änderung der Reiseroute des Skippers zugunsten von Niue war mit Sicherheit eine der Top-Ten-Entscheidungen unserer bisherigen Reise – und trotzdem knirschte es bei Mareike erst einmal, als verkündet wurde, dass es nicht auf direktem Weg nach Tonga gehen sollte.
Wenn es zu Hause in der Zweisamkeit herausfordernd wird, gibt es herrlich viele Möglichkeiten zur Ablenkung. Man kann allein spazieren gehen, Freundinnen zum Kaffee oder Vino treffen, Dampf außerhalb der eigenen vier Wände ablassen oder Schuhe kaufen. Auf Holly Golightly und dann auch noch auf hoher See sind die Möglichkeiten deutlich eingeschränkter. Das Gute daran ist, dass wir immer hübsch mit uns selbst konfrontiert sind. Neben den 100 tollen Sachen, die wir erleben, dürfen wir auch lernen, wie wir noch besser mit uns selbst, allein oder auch zu zweit umgehen können. Das ist des öfteren ganz schön anstrengend. Wenn es aber gelingt, freuen wir uns um so mehr!
Nachdem Niue so völlig unvermutet in unsere Segelroute gerutscht ist, uns so positiv überrascht und durchweg gut gefallen hat, fällt es uns nicht leicht zu gehen. Aber nach nur fünf Nächten auf der hübschen, rauen, bezaubernden und ach so freundlichen Insel ist das Wetter für die verbleibenden zwei Tage bis Tonga perfekt. So klarieren wir bei der freundlichen Dame von Niue Immigration wieder aus. Sie ist ein wenig enttäuscht, dass wir nur so kurz geblieben sind, aber immerhin waren wir ja da. Was für ein Schlump!

Wir sind nicht die einzigen, die auf ein gutes Wetterfenster gewartet haben. Mit uns legen etwa sechs weitere Yachten von den Mooringbojen ab und hissen die Segel, um genau nach Westen Richtung Tonga zu segeln. Es ist ein schönes Gefühl, nicht so ganz allein unterwegs zu sein. Fast alle Schiffe nutzen den Ostwind und segeln mehr oder weniger „platt vor'm Laken“ (bedeutet mit komplettem Rückenwind). Einzig ein Schiff aus den Niederlanden hat anscheinend die Idee, vor vor dem Wind zu kreuzen und wählt erstmal einen etwas südlicheren Kurs. So schaukeln wir gemütlich drauf los. Die Stimmung auf Holly Golightly ist gut und wir freuen uns doll darauf, Tim und Verena von der Moana in Tonga wieder zu treffen.

Nachdem wir Niue verlassen haben, kreuzen wir den 170. Längengrad.* Das ist für uns etwas ganz besonderes! Damit kreuzen wir nämlich den Längengrad, der auch durch unseren Heimathafen Grauhöft läuft und haben somit die halbe Welt umsegelt! Wir zwei durch dick und dünn mit dem tollsten Schiff der Welt! Es ist ein kleiner erhebender Moment auf Holly Golightly. Zusammen so weit gekommen zu sein, macht uns schon ein wenig stolz.
*genau: 170°43`89,23“ West = der sogenannte Antimeridian unseres Heimathafens

Die erste Nacht verläuft entspannt. Auf unserer elektronischen Seekarte sind nach wie vor ein paar parallel fahrende Schiffe zu sehen. Die ruhigen Windbedingungen geben uns Leichtgewicht oftmals noch ein wenig länger die Chance mit den Größeren mitzuhalten. Im Laufe des zweiten Tages nimmt der Wind zu und wir segeln deutlich sportlicher in die zweite Nacht. Wie immer übernimmt Franz die erste Wache. Nachdem Genaro von Bord gegangen ist, hat jeder von uns sechs Stunden Wache am Stück. Das ist zugegebenermaßen ganz schön lang, führt aber dazu, dass der andere auch mal wirklich schlafen und sich ausruhen kann. So der Plan …
Um 2:00 Uhr nachts pult sich Mareike tapfer aus der Koje und löst den unterdessen verdientermaßen müden Franz ab. Nach etwa einer Stunde tauchen aus dem Süden die vor dem Wind kreuzenden Holländer wieder auf. Irgendwo werden sie unsere Kurslinie kreuzen – so weit so gut bzw. ehrlich gesagt: je weiter von uns weg desto besser. Mareike bestaunt die Annäherung und wundert sich ein wenig, da der voraussichtliche Abstand im Moment der Passage zu unseren Boot nicht gerade üppig scheint. (unser AIS* berechnet das sehr genau) Das Staunen verwandelt sich nach und nach in eine gewisse Grundaufregung. Haben wir wirklich Wegerecht und damit auch Kurshaltepflicht? Oder sind es doch die anderen? Als der Adrenalinspiegel zu steigen beginnt, vergewissert Mareike sich sicherheitshalber beim Skipper. Der ist natürlich alles andere als begeistert, nach so kurzer Schlafenszeit geweckt zu werden, bestätigt aber das Wegerecht und versucht dann weiter zu schlafen.
Leider macht das unseren Kurs kreuzende Schiff keinerlei Anstalten, den Kurs zu ändern. Unser tolles AIS zeigt brav immer wieder neu den Abstand an, den wir voraussichtlich haben werden, wenn wir uns am nächsten sind und Mareike ist nicht begeistert. Die Anzeige wechselt zwischen 0,2 und 0,1 bis leider auch zu 0,0 nautischen Meilen. Um nicht sehenden Auges ins Unglück zu schippern, übernimmt Mareike die Initiative und funkt die Holländer an. Der Skipper bestätigt, dass er uns auch auf dem AIS sieht - uff - und vermutet, dass er hinter uns durch geht. So gibt es einen Augenblick Entspannung bei der Wachhabenden auf Holly Golightly. Zu Mareikes Leidwesen verändert sich nach dem Funkkontakt leider gar nichts. Das Team Niederlande ändert weder den Kurs noch das Tempo … nix. Nach einiger Zeit funken sie uns allerdings an. Unterdessen hat ein Wachwechsel auf dem anderen Boot stattgefunden, der Skipper schläft (What???) und seine Frau erkundigt sich nach unserer Durchschnittsgeschwindigkeit. Wir sind unterdessen schon sehr nah. Zusätzlich ist die Nacht mondlos und die See ist als deutlich unruhig zu beschreiben. So surfen wir mit bis zu acht Knoten die Wellen runter, werden im Wellental deutlich langsamer, um dann mit der nächsten Welle von hinten wieder Schwung aufzunehmen. Was genau es zu diesem Zeitpunkt bringen soll mit Durchschnittsgeschwindigkeiten zu rechnen, erschließt sich Mareike nicht. Sie sieht die Lichter der anderen Yacht nah, gefühlt viel zu nah – die Komfortzone ist unterschritten. Um bei rauen, stockdunklen Bedingungen im Notfall das sogenannte Manöver des letzten Augenblicks zu steuern, fühlt sie sich nicht wirklich in der Lage. Also wird Franz zum zweiten Mal geweckt und dieses Mal auch noch aus der Koje geholt.
Gemeinsam verfolgen wir, wie die fliegenden Holländer mit einem Abstand der weit jenseits guter Seemannschaft liegt knapp VOR uns durch fahren. Nachdem sie vorbei sind, wird von ihnen über Funk noch verkündet, dass ja alles gut gegangen ist – die Crew sieht unsere Grünen Positionslichter – und schon verschwinden sie wieder in der Dunkelheit. Wir blicken ein wenig fassungslos hinterher. Eigentlich ist auf dem Pazifik ja wirklich genug Platz, kein Grund für solche Stressmanöver mitten in der Nacht … aber die Welt ist bunt und so hat anscheinend jeder auch ein anderes Gefühl dazu, wie sich entspannter Abstand anfühlt.
Weiter geht‘s.
*AIS = Automatic Identification System

Am Morgen des dritten Tages erscheint das Königreich Tonga mit der Vava´u-Gruppe am Horizont! Es wird nie langweilig, ein neues Land mit dem Segelboot zu erreichen. Wir umrunden die Inseln im Norden und fahren durch eine Landschaft, die an norwegische Fjorde erinnert in die geschützte Bucht von Neiafu.
Malo e lelei Tonga!

